Wo liegen die Grenzen des „Spirit of the Game“ im Ultimate? Obwohl ich mich schon lange mit dem Regelwerk des Sportspiels beschäftige, ist mir erst jetzt klar geworden, dass dessen Paragraf 1 doch recht dehnbar ist. Genauer gesagt hat ihn ein Freund in der Diskussion jüngst „Gummi-Paragrafen“ genannt. Von Jörg Benner
Es kann sein, dass nur die Interpretation einzelner Stellen gummiartig weich und biegsam ist. Vielleicht hängt die Bezeichnung aber auch mit dem „unsichtbaren Band“ zusammen, das im Zusammenhang mit dem Frisbeesport steht. Was aber, wenn dieses unsichtbare Band reißt?
Streitschlichtung auf Basis Verhaltenskodex
In der Einführung des Regelwerks wird das für viele Undenkbare beinahe beiläufig postuliert:
„Ultimate hat keine externen Schiedsrichter und ist kontaktfrei. Der Spirit of the Game gibt vor, wie Spielende die Partie selbst regeln und sich auf dem Feld benehmen.“
Der Spirit of the Game ist also eine Methode zur Streitschlichtung und zugleich ein gewisser Verhaltenskodex. Die Erklärung des „Spirit of the Game“ findet eine Fortsetzung im ersten Absatz des gleichnamigen ersten Paragrafen, Absatz 1:
„Alle Spielenden sind dafür verantwortlich, die Regeln zu befolgen und deren Einhaltung zu überwachen. Ultimate beruht auf dem Spirit of the Game, der die Verantwortung des Fair Plays jeder Spielerin und jedem Spieler überträgt.“
Noch mal zum Mitschreiben: Im Ultimate sind keine Schiris vorgesehen, die Spielenden regeln Verstöße selbst! Wenn ich frage, wie das funktionieren soll, dann zielt diese Frage auf zwei unterschiedliche Aspekte ab. Das eine „Wie“ ist das Verfahren oder die Streitschlichtungsmethode. Das andere „Wie“ jedoch ist die Grundlage, auf der das Prinzip fußt, oder seine Bedingung, damit das Verfahren nicht ausgenutzt oder untergraben werden kann.
Zur Streitschlichtungsmethode wird so einiges gesagt. Die Klärung der dazu wichtigsten Punkte steht
- in den Definitionen (was ist ein „Call“? – ein deutlicher Ruf, der das Spiel unterbricht),
- im Regelparagrafen 15 (Das Callen von Fouls, Infractions und Violations)
- sowie im Paragrafen 1. Dort bestimmen die Punkte 1.10 das Prinzip der direkten Beteiligung,
- 1.11, dass nur Spielende und Captains callen dürfen
- und 1.12, wie es weitergeht, wenn sich die Beteiligten nicht einigen können (die Scheibe geht zurück zu der oder dem vorigen Werfenden).
Gummi in den Formulierungen
Die Bedingung, damit das Sportspiel Ultimate ohne externe Schiedsrichtende funktioniert, ist zusammengefasst im Paragrafen 1.4:
„Hoher kämpferischer Einsatz wird gefördert, sollte aber niemals auf Kosten des gegenseitigen Respekts zwischen den Spielenden, des Festhaltens an den vereinbarten Spielregeln oder der Freude am Spiel gehen.“
Das Prinzip der Gegenseitigkeit gibt es in vielen Philosophien, vom Konfuzianismus bis hin zu Kant. Die vereinfachte Variante davon lautet: „Was du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Das Problem dabei: Wer gewohnt ist, seine Streitigkeiten unter seinesgleichen mit Messern auszutragen, der findet das dann auch voll ok so. Unter diesen Menschen kann das durchaus von gegenseitigem Respekt zeugen. Das heißt, die Vorgabe, wie sich die Spielenden auf dem Feld benehmen, unterliegt auch einer gewissen Interpretation. Zeigst du deine Freude am Spiel, indem du die Zähne fletscht und nach Dingen trittst?
Im Paragrafen 1.3 werden zwar einige Bedingungen der Selbstregulierung genannt, wie Regelkenntnis, Objektivität, Aufrichtigkeit, Dialogfähigkeit sowie Einheitlichkeit und Angemessenheit. Doch außer der Regelkenntnis (durch so genannte Akkreditierungs-Tests des Weltverbandes auf internationalem Niveau) lassen sich die anderen Forderungen schlecht messen.
Der eigentliche Gummiparagraf ist aber der Absatz 1.2. Hier kommen die Regeln nach der Eigenverantwortung (in 1.1) nun mit der noch weit schwierigeren Forderung der Selbstregulierung:
„Es wird darauf vertraut, dass keine Spielerin und kein Spieler absichtlich die Regeln verletzt; infolgedessen gibt es auch keine harten Strafen für versehentliche Regelverstöße, sondern vielmehr eine Methode zur Spielfortsetzung in einer Art, die simuliert was höchst-wahrscheinlich passiert wäre, hätte es keinen Regelverstoß gegeben.“
Die doppelte Einschränkung
Die doppelte Einschränkung hat mich stutzig gemacht. Was heißt das: Es gibt „keine harten Strafen für versehentliche Regelverstöße“? Eigentlich müsste es demnach leichte Strafen für versehentliche Regelverstöße geben können. Ganz zu schweigen von Strafen für absichtliche Regelverstöße! Die erste Frage wäre demnach, wer kann diese Strafen geben (Schiris gibt es nicht)? Die zweite Frage wäre, wie könnten diese aussehen?
Zur ersten Frage ist zu sagen, dass dazu sicherlich am ehesten die Teams in Betracht kommen. Immerhin steht in Paragraf 1.7 zur Teamverantwortung ganz klar, diese müssen als „Hüter des Spirits“ nicht nur ihren Spielenden die Regeln vermitteln, sondern auch
„1.7.2. Spielende disziplinieren, die schlechten Spirit zeigen“.
Zur anderen Frage kommen wir unten. Während alle anderen Regelparagrafen 2 bis 20 ganz klar auflisten, was in welchem Fall passiert, das heißt, welche Konsequenz welche Aktion oder Fehlaktion zur Folge hat, zeichnet sich der Paragraf eins dadurch aus, dass er nichts dergleichen tut. Das ist die logische Konsequenz aus dem Gummiparagrafen 1.2. der festhält: „Es wird darauf vertraut, dass keine Spielerin und kein Spieler absichtlich die Regeln verletzt.“
Das haben sich die Regelväter und –mütter gut ausgedacht. Aber wie realistisch ist das?
Eine weitere Besonderheit der international geltenden Ultimate-Regeln sind die Unterpunkte 1.5 und 1.6, die Beispiele für guten und für schlechten Spirit aufführen. Das gibt es meines Wissens in keiner anderen Sportart! Hier werden konkrete Verhaltensweisen benannt, die erwünscht sind oder die unerwünscht sind. Konsequenterweise werden aber auch hier keine Konsequenzen genannt!
Von besonderem Belang auf der positiven Seite sind die Punkte
- 1.5.3 „Gegenspielende zu guten Aktionen oder gutem Spirit beglückwünschen“ (das korreliert mit dem Primat der Freude vor unbedingtem Gewinnenwollen aus 1.4);
- 1.5.4 „Dich der oder dem Gegenspielenden vorstellen“ (das zeugt von Respekt);
- und 1.5.5 „ruhig auf Meinungsverschiedenheiten oder Provokationen reagieren“ (das zeugt von emotionaler Kontrolle).
Als Negativbeispiele werden hingegen folgende Handlungen benannt, die in diesen Zusammenhang hineinspielen:
- 1.6.1 „Gefährliches Spiel und aggressives Verhalten“ (eine körperliche Gefährdung anderer);
- 1.6.2 „Absichtliches Foulen oder andere absichtliche Regelverstöße“ (die sich infolge von 1.2 von selbst verbieten);
- sowie 1.6.3 „Verspotten oder Einschüchtern von Gegenspielern“ (was den gegenseitigen Respekt im Umgang auf Augenhöhe miteinander vermissen ließe).
Keine Strafenkataloge verfügbar
Eingefleischte Verfechter einer informelleren Auffassung des Spirit of the Game als einer sehr autonomen Denkweise bestehen gerne auf der verkürzten Darstellung von § 1.2 in einer Formulierung wie „Im Ultimate sind keine Strafen vorgesehen“. Das ist so nicht richtig. Vielmehr verblüfft der § 1.2 durch die doppelte Einschränkung und der Paragraf 1.6 führt sogar Beispiele von absichtlichen Regelverstößen auf, für die jedoch keine Strafmaßnahmen genannt werden.
Der einzige Hinweis auf Strafmaßnahmen in den Ultimate-Regeln steht im § 1.7, der die Teams als „Hüter des Spirit of the Game“ in die Pflicht und Verantwortung der Regelvermittlung und der „Disziplinierung von Mitspielenden“ nimmt. Vielleicht sollte der Deutsche Frisbeesport-Verband, zunächst für seine Nationalteams, und dann auch als Empfehlung für andere Teams einen gewissen Maßnahmenkatalog definieren, der bei absichtlichen Regelverstößen oder Fällen unkontrollierten Missverhaltens Ausschlüsse vom laufenden Spiel, vom laufenden Turniertag oder vom gesamten Turnier vorsieht?
Eigeninterpretation der Teamverantwortung nötig
Andernfalls muss jedes Team die Interpretation des Paragrafen 1.7 für sich vornehmen, der damit ebenfalls zu einem gehörigen Gummiparagrafen wird. Die Gewährleistung eines gemeinsamen Verständnisses für das Spiel auf Basis Gegenseitigkeit ist keine Kleinigkeit. Die entsprechende Forderung im Paragrafen 1.7.2 ruft aus meiner Sicht daher nach einer näheren Handlungsanleitung. Wie sollen wir das gewährleisten? Wie stellen wir sicher, dass unsere Kandidaten mit mangelhafter emotionaler Kontrolle nicht ausrasten?
Umso professioneller Ultimate künftig als faszinierender und begeisternder Teamsport betrieben wird, umso öfter wird es nichtspielende Coaches geben, die entsprechende Entscheidungen mit der nötigen Autorität treffen und durchsetzen können, sowie Teamcaptains, die hoffentlich von klein auf mit dem Ausmaß der Bedeutung dieser Forderung vertraut gemacht werden.
Eine Reihe weiterer Kontrollmechanismen unterstützen sie dabei:
- Die Wahl von Spirit Captains in jeden Team,
- die soziale Kontrolle, die sich durch das gegenseitige Ansehen der Teams ergibt,
- unterstützt durch die gegenseitige SOTG-Bewertung nach fünf Kategorien,
- die Möglichkeit im Spiel Time-Outs und so genannte „Spirit Time-Outs“ zu nehmen,
- und nicht zuletzt auch eine mögliche Regelauslegung durch den Frisbeesport-Verband, die jedenfalls den daran Interessierten verdeutlicht, welche Haltung der Verband bei offiziellen Meisterschaftsturnieren einnimmt, und wie er diese Haltung durchzusetzen gedenkt.
Gilt eine Beleidigung als Violation?
Eine etwas konsequentere Interpretation der Regeln wäre auch deshalb hilfreich, weil im Verhalten nicht berücksichtigte Positiv- und Negativbeispiele (in den Unterpunkten 1.5 und 1.6) ansonsten letztlich keine ernsthaften Folgen nach sich ziehen. Deshalb könnten eigennützige Spielerinnen oder Spieler in der Tat denken: „Das verschafft mir Vorteile! Damit komme ich durch!“
Interessanterweise sind alle Verstöße in den Paragrafen 2 bis 20 klar geregelt, wie sie „gecallt“ und verhandelt werden. Doch gegen Verstöße gegen den Paragrafen 1 gibt es derzeit praktisch kaum eine Handhabe. Darf ich bei einer Beleidigung eine „Violation“ callen? Was geschieht dann weiter?
Mir ist bewusst, dass insbesondere die Verfechter einer informellen Auffassung des Spirit of the Game strikt dagegen sind, dass etwa der Verband Regularien vorgibt. Doch im organisierten Sport ist der Dachverband ureigens dafür zuständig, faire und für alle gleichermaßen zutreffende Bedingungen der Sportausübung zu schaffen. Die vermeintliche Fairness auf Gegenseitigkeit zu beschwören hilft dann nicht mehr, wenn wiederholt gegen sie verstoßen wird.
Der Erfinder der modernen Kunststoff-Flugscheiben Walter Fred Morrison hat den Begriff des „unsichtbaren Bandes“ geprägt. Noch vor der Pressung flugfähiger Plastikscheiben verkaufte er zusammen mit seiner Frau Lu am Strand von Santa Monica so genannte Pie-Tins (runde Kuchenbleche der Bäckerei „Ma Frisbie`s“). Dabei sagte er (so ähnlich):
„Die Scheibe gibt es umsonst, Sie zahlen einen Viertel Dollar nur für die Rolle des unsichtbaren Drahtes, an dem die Scheibe entlang fliegt.“
The invisible string (das unsichtbare Band) kann auch als Metapher für Fairness auf dem Prinzip Gegenseitigkeit aufgefasst werden. Anstelle eines Drahtes kann es auch als ein Gummiband vorgestellt werden. Wenn der Gummi porös wird oder das Band überdehnt wird, dann reißt es, dann war es das mit der Fairness. Viele behaupten, wenn der Sport größer wird, sei es unabwendbar, dass Schiedsrichtende nötig werden. Das glaube ich nicht, wenn es uns gelingt unsere Werte zu vermitteln.
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